Soziales ist aus Nicht-Sozialem und Sozialem zugleich zu erklären!
(nach Wolfgang Schluchter)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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02.03.02 / Sozialhilfemissbrauch?

Der deutsche Verwaltungsjurist Berthold Löffler behandelt im Sozialmagazin (
"Pauschalisierung als Strategie gegen Sozialhilfemissbrauch", 2002, Jg. 27, H.2, 29-38) das schwierige Thema des Missbrauchs von Sozialhilfeleistungen.

Er geht dabei von folgender Definition von Sozialhilfemissbrauch aus: "Leistungen der Sozialhilfe nimmt nicht gerechtfertigt in Anspruch, wer zur Erlangung dieser Leistungen vorsätzlich oder fahrlässig leistungsrelevante Daten verschweigt oder falsche Angaben macht und daraus einen finanziellen und/oder materiellen Vorteil hat" (S. 30). Dazu gehören etwa das Verschweigen von Vermögenswerten und Einkommensquellen, das Verschweigen einer eheähnlichen Gemeinschaft, der Mehrfachbezug von Sozialhilfe oder - eher in der Grauzone - die Überinanspruchnahme von Sozialleistungen.

In der Öffentlichkeit kursieren über die Art und dem Umfang dieses Missbrauchs unterschiedliche Vorstellungen, die systematische Erfassung ist hingegen selten. Löffler versuchte daher mittels einer Expertenbefragung und einer Erhebung des Sozialhilfemissbrauchs für den Landkreis Ravensburg diese Unkenntnis ein wenig zu verringern.

Diese Untersuchung fördert in der Tat nun einige doch erstaunliche Resultate zutage:

  • Die Schätzungen der ExpertInnen über Umfang und Höhe des Missbrauchs gingen weit auseinander: zwischen 1% und 50% der SozialhilfebezügerInnen sollen ihnen zufolge am Missbrauch beteiligt sein. (vgl. S. 30)
  • Die Erhebung bei 4007 Haushalten mit Sozialhilfebezug erbrachte "eine positive Ernüchterung": "Die Missbrauchsquote der Hilfeempfänger ohne Asylbewerber beträgt 3.1 Prozent, die Missbrauchsquote bei den Asylbewerbern beträgt 3.4 Prozent" (S. 31).
    (Die Diplomarbeit von Fehringer an der Universität Konstanz konnte übrigens ebenfalls einen Leistungsmissbrauch von weniger als 5% der Fälle nachweisen.)
  • Die Höhe des Missbrauchs beläuft sich auf etwa 500'000 Mark, was rund 1.3% der gesamten Ausgaben für Leistungen der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes entspricht (vgl. ebd.).
  • "Absoluter Missbrauchsschwerpunkt in Umfang und Höhe ist das Verschweigen von Arbeitseinkommen mit fünfzig Prozent aller Fälle" (S.32).
  • Weitere Schwerpunkte waren das Verschweigen von sonstigen Einkünften und von Vermögen.
  • "Eine geringe oder gar keine Rolle spielen die Missbrauchsformen Manipulation von Unterkunftskosten, Missbrauch von Krankenscheinen und Arbeitsverweigerung. (...) Auch der betrügerische Mehrfachbezug von Sozialhilfe (...) scheint in Wirklichkeit kaum eine Rolle zu spielen" (ebd.).

Als wirkungsvolle Gegenmassnahme erwähnt der Autor die Pauschalisierung von Sozialhilfeleistungen und den Ausbau des Arbeitsangebots. Ausserdem prüfe der Landkreis Ravensburg intensiv die Erstanträge auf Sozialhilfe. Dies beinhalte auch einen einzelfallbezogenen Datenabgleich mit der KFZ-Zulassungsstelle sowie eine Sichtung der Girokontoauszüge der letzten drei bis sechs Monate. Diese Kontrolldichte soll einen Missbrauch schon im Ansatz unterbinden (vgl. S.33).

Löffler kritisiert dann ausführlich das Bedarfsdeckungs- und Einzelfallprinzip. Es animiere einerseits dazu, ein Maximum an Leistung für sich herauszuholen, andererseits bevormunde es aufgrund seines Zuteilungscharakters (vgl. 35). "Denn während die sozialhilfeunabhängigen Wirtschaftsbürger vor dem Hintergrund eines beschränkten Budgets ständig Konsumwahlentscheidungen treffen müssen, brauchen sich sozialhilfeabhängige Bürger nur eingeschränkt Gedanken darüber zu machen ..." (ebd.).
Der Autor zieht daraus folgenden Schluss: "Die möglichst umfassende Pauschalisierung aller einer Pauschalisierung zugänglichen Sozialleistungen wird zur entscheidenden Missbrauchsbremse" (ebd.).

Abschliessend widmet sich der Autor der Frage der sozialen Gerechtigkeit: Obwohl nur etwa 30% der SozialhilfeempfängerInnen arbeitsfähig bzw. arbeitspflichtig sind, ruft er zu einer Stärkung des Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung auf. Denn dass das Sozialhilfegesetz einem (kleinen) Teil der HilfeempfängerInnen Anreize biete, sich den Mühen der Arbeitsgesellschaft zu entziehen, sei sozial ungerecht. "Eine konsequente Verknüpfung sozialstaatlicher Leistungen mit individuellen Gegenleistungen fördert nicht nur das Verantwortungsbewusstsein und das Selbstwertgefühl sozialhilfebedürftiger Bürger, sondern erhöht auch den Anreiz, so schnell als möglich von Sozialhilfe unabhängig zu werden" (S.37).

Hier erstaunt vor allem die Vehemenz, mit der dieses Anliegen vorgetragen wird. Entgegen den eigenen empirischen Ergebnissen scheint der Autor seiner verwaltungslogischen Fokussierung auf den Missbrauch von Sozialhilfe erlegen zu sein. Denn wollte man in diesem Zusammenhang Fragen der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, müsste zumindest das Thema der Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe angetönt werden. Denn auf jeden Sozialhilfeempfänger in Deutschland kommt mindestens eine weitere Person, die Anspruch auf Leistungen hätte, den aber nicht geltend macht.


Die Zeitschrift befindet sich in der Bibliothek der FHS in Rorschach.

 

 

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