23.09.01
/ Soziale Gerechtigkeit im Sozialstaat
Im
Berliner Journal für Soziologie (2001, H.2, 135-157) widmet sich
Wofgang Merkel unter dem Titel "Soziale Gerechtigkeit und die
drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus" einem Thema an der Schnittstelle
von politischer Philosphie und empirischer Sozialstaatsforschung.
Vier Fragen möchte er dabei klären:
1) Welche regulative Leitideen sozialer Gerechtigkeit liefert die
politische Philosophie?
2) Welche politische Handlungspräferenzen ergeben sich aus der
Gerechtigkeitsphilosophie?
3) Wie gerecht ist das liberale, konservative bwz. sozialdemokratische
Sozialstaatsmodell?
4) Welchen Logiken sollte eine Reform des Sozialstaats folgen, die
Gerechtigkeitspräferenzen wie auch Imperative der Realisierbarkeit
berücksichtigen?
zu 1)
Merkel diskutiert drei Positionen in der Gerechtigkeitsdiskussion,
inwiefern sie sich für einen modernen Sozialstaat nutzbar machen
lassen: Die libertäre, umverteilungsaverse Position am Beispiel
von F.A. von Hayek, die sozialliberale, umverteilungsfreundliche Position
von J. Rawls sowie die kommunitaristische und verteilungssensitive
Ausrichtung von M. Walzer.
Er kommt dann zum Schluss, dass sich paradoxerweise der Ansatz des
Liberalen Rawls am besten für die Gerechtigkeitsüberlegungen
zu einem umverteilungsoffenen Sozialstaat eignet (vgl. S.139).
Denn diese Theorie vermag sowohl den Wert der Freiheit wie der Gleichheit
zu berücksichtigen und richtet sich somit gegen eine paternalistische
Ausrichtung des Sozialstaats. "Darüber hinaus lassen sich
mit ihr auch Politiken rechtfertigen, die wie die Bildung, Arbeitsmarktinklusion
und Aktivierung eines ausgeprägten Sozialstaates die Zukunftsfähigkeit
moderner Gesellschaften sichern" (S.140).
zu 2)
Der Autor arbeitet dann in Anlehnung an Rawls fünf Bereiche der
Verteilungsgerechtigkeit heraus, die er anschliessend bewertet bzw.
rangiert. Daraus entsteht in der Folge eine Prioritätenliste
der Gerechtigkeitsziele, die er auch theoretisch begründet
(vgl. S.140ff.):
Erste Priorität ist die Vermeidung von Armut, wozu alle
anderen vier Ziele beitragen müssen. Zweite Priorität (und
am wenigsten umstritten) ist der höchstmögliche Ausbildungsstandard,
auch auf Kosten zusätzlicher öffentlicher Verschuldung oder
von Umschichtungen zu Lasten der Altersversorgung.
Da Arbeitslosigkeit nicht primär ein ökonomisches Problem
darstelle (Bsp. soziale Ausgrenzung, psychische Probleme), das sich
durch Transferzahlungen einfach aus der Welt schaffen lasse, bildet
die Inklusion in den Arbeitsmarkt die dritte Priorität.
Als vierte Priorität nennt Merkel die Garantien sozialer Sicherungsstandards
verbunden mit einer Verschärfung der Pflichten zur Wiederaufnahme
von Arbeit. Die aktivierenden Komponenten des Sozialstaats
müssten ausgebaut werden, wofür "Dänemark mit
seiner Kombination von hohen Bildungsinvestitionen, einer aktiven
Arbeitsmarktpolitik, grosszügigen Sozialleistungen bei gleichzeitiger
Institutionalisierung der Pflichten und verschärften Vorkehrungen
gegen sozial- und steuerstaatliches free riding" (S.143)
ein nachahmenswertes Beispiel bietet.
Fünfte und letzte Priorität ist gemäss Merkel die Verringerung
der Einkommens- und Vermögensspreizung. Wenn allerdings die
anderen Gerechtigkeitsziele erreicht erfüllt seien, "verliert
die Forderung nach Angleichung der Vermögen und Einkommen vieles
von ihrem gerechtigkeitstheoretischen Geltungsgrund" (S.144).
zu 3)
Im nächsten Schritt vergleicht der Autor die drei folgenden Sozialstaatsmodelle
im Hinblick darauf, inwieweit sie diesen fünf Gerechtigkeitspräferenzen
genügen: das marginale angelsächsische Sozialstaatsmodell,
den Sozialversicherungsstaat Kontinentaleuropas sowie das universalistische
Modell Skandinaviens.
Bei der Armutsbekämpfung schneiden die skandinavischen und kontinentaleuropäischen
Sozialstaaten gut ab, wohingegen die angelsächsischen Staaten
"in der Armutsfrage weitgehend versagt" (S.144) haben. In
der Bildungspolitik erhalten wiederum die skandinavischen Länder
gute Noten, während die anderen beiden Staatengruppen deutlich
weniger für Bildung ausgeben. Im Hinblick auf das dritte Gerechtigkeitsziel
zeigt sich, dass "skandinavischen und angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten
durchschnittlich eine gute Inklusion in den Arbeitsmarkt erreicht
haben" (S.147), während dies für die kontinentalen
Staaten nicht mehr zutrifft. Die Sozialausgaben sind am höchsten
in Skandinavien (31% des BIP), gefolgt von Kontinentaleuropa (27%)
und mit Abstand von den angelsächsischen Ländern (18%).
Interessant ist, dass die kontinenaleuropäischen Sozialversicherungsstaaten
am meisten für die eher passiv-kompensierende Alterssicherung
ausgeben. Auch bezüglich Einkommensverteilung stehen die skandinavischen
Länder am gerechtesten da: Sie weisen die geringste Ungleichverteilung
der Einkommen auf, gefolgt mit etwa gleichen Abständen von den
kontinentaleuropäischen und angelsächsischen Ländern.
Zieht man diese Gerechtigkeitsdimensionen zusammen, so ergibt sich
folgendes Bild: "Die Gruppe der skandinavischen Wohlfahrtsstaaten
schneidet deutlich besser ab als die kontinentalen Wohlfahrtsstaaten.
(...) Nach den Sozialstaaten des europäischen Kontinents folgen
im fast gleichen Abstand die angelsächsischen Wohlfahrtsstaaten.
Nur im Bereich der Sozialausgaben liegt der europäische Kontinent
knapp vor den nordischen Ländern. Dafür schneiden die europäischen
Kontinentalstaaten am schlechtesten bei den 'aktivierenden' Komponenten
des Sozialstaats, nämlich im Bereich der Bildung und des Arbeitsmarkts
ab" (S.149). Die Gesamtkalkulation weist "die angelsächsischen
Länder zudem klar als die Verlierer im Gerechtigkeitswettbewerb
aus" (S.152).
Die Schweiz steht in diesem Ranking, über alle fünf
Gerechtigkeitsziele gesehen, nicht so schlecht da: Sie rangiert nach
den skandinavischen Ländern sowie nach Österreich und Belgien.
Sehr gut sieht es im internationalen Vergleich bei der Bekämpfung
von Armut und bei der Inklusion in den Arbeitsmarkt aus. Eher gut
ist die Bilanz auch bei den Bildungsausgaben. Die Schwächen unter
gerechtigkeitstheoretischer Perspektive befinden sich klar bei den
Sozialausgaben und bei der Einkommensverteilung.
zu 4)
Für den letzten Schritt geht Merkel von folgender These aus:
"Damit sozialstaatliche Institutionen soziale Gerechtigkeit in
kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften erfolgreich und systematisch
umsetzen können, müssen sie mindestens drei Logiken gehorchen:
der normativen, der ökonomischen und der politischen Logik"
(S.152f.).
Sozialstaatliche Programme müssen der Logik der Fairness
gehorchen, d.h. dass etwa free riding gering gehalten wird und die
erforderlichen Massnahmen nicht diskriminierend sind. "Universalistische
Sozialstaatsinstitutionen (...) setzen diese Fairnessgebote erfolgreicher
um, als bedürftigkeitsabhängige, selektive Sozialleistungen"
(S.153).
Die sozialstaatlichen Institutionen dürfen nicht wirtschaftliche
Innovationen und Prosperität hemmen: Dass erhöhte Lohnnebenkosten
die Konkurrenzfähigkeit und das Beschäftigungswachstum schwächen,
ist "auch aus der Gerechtigkeitsperspektive ein zwingendes Argument
gegen die Finanzierung über das Sozialversicherungsprinzip und
für die Steuerfinanzierung des Sozialstaats" (ebd.,
Herv. MMK), wodurch nebenbei auch stärkere Umverteilungseffekte
erzielt werden.
Eine sozialstaatliche Reform muss eine breite politische Unterstützung
durch die BürgerInnen, v.a. durch die Mittelschicht gewinnen.
Letztere können gemäss Merkel dann überzeugt werden,
wenn die sozialstaatlichen Leistungen leicht zugänglich sind,
eine gute Qualität haben und einen glaubhaften Versicherungsschutz
für die Wechselfälle des Lebens bieten (vgl. ebd.).
- Die politische Logik "kann für jede der drei wohlfahrtsstaatlichen
Prinzipien sprechen (...).
- Die ökonomische Logik wird in Zeiten der Globalisierung jedoch
nur noch durch die Institutionen des universalistischen oder marginalen
Wohlfahrtsstaates hinreichend respektiert.
- Die normative Logik der Fairness erfüllt aber alleine das universalistische
Modell noch zureichend" (S. 154).