Soziales ist aus Nicht-Sozialem und Sozialem zugleich zu erklären!
(nach Wolfgang Schluchter)

 

 

 

 

 

 

 

 

 


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16.11.02 / Karriere dank Leistung?

Der Darmstadter Soziologieprofessor Michael Hartmann widmet sich seit Jahren den Karrieren der Eliten in Europa. In seinem neuesten Buch "Der Mythos von den Leistungseliten" (2002, Campus Verlag) entlarvt er die Vorstellung einer Karriere durch Leistung als Mythos.

Wie der Autor argumentiert, wird anhand der folgenden Auszüge aus der Rezension von Elisabeth Niejahr ersichtlich:

Der junge Vorstandchef Friedrich von Bohlen von Lion Bioscience wirbt in einer Anzeige für eine "Neue Kultur der Selbständigkeit". "Mit Einsatz und Fleiss, hinzu die nötige Risikobereitschaft, stehe jedermann der Weg nach ganz oben offen.

Wie falsch diese Annahme ist, hat Michael Hartmann (...) schon mehrfach in Untersuchungen über Karrieremuster in der Wirtschaft, Justiz und Wissenschaft nachgewiesen. In seinen neuen Buch erwähnt er die Bohlen-Anzeige als Beispiel für eine verbreitete, aber falsche Selbsteinschätzung der deutschen Wirtschaftselite, die sich so gern als Leistungselite darstellt. 'Die Doppelbödigkeit und ungewollte Ironie dieser Stellungnahme erschliesst sich dabei wohl nur intimeren Kennern der deutschen Wirtschaft', schreibt Hartmann. Mit Friedrich von Bohlen werbe ausgerechnet der wohlhabende Spross einer der ältesten Industriefamilien Deutschlands (...) für das Motto 'Chancen für alle'. Hier werde, unbeabsichtigt, 'die Wirklichkeit hinter der Fassade der offiziell verkündeten Ideologie von der Leistungsgesellschaft erkennbar'.

Hartmann hat die soziale Herkunft, Ausbildungswege und die beruflichen Karrieren aller promovierten Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 miteinander verglichen. Ihm ging es unter anderem darum, ob die Bildungsexpansion von den siebziger Jahren an tatsächlich die Aufstiegschancen für Kinder aus Kleinverdienerhaushalten erhöht hat.

Seine Bilanz ist negativ: Objektive Erfolgsfaktoren wie kurze Studienzeiten, Auslanderfahrungen oder Praktika zählen vergleichsweise wenig - die Karrierechancen sind auch heute für formal gleich Qualifizierte extrem ungleich verteilt. Hartmann erklärt das vor allem mit dem unterschiedlichen 'klassenspezifischen Habitus'. Bei Bewerbungsgesprächen und erst recht bei der Auswahl von Führungskräften in Grossunternehmen sei eine souveräne Ausstrahlung oft entscheidend. 'Man bewegt sich in den oberen Etagen einfach 'trittsicherer', wenn man das Gelände seit Kindesbeinen kennt', schreibt er.

Hartmanns Untersuchung (...) geht auch auf Rekrutierungsprozesse in Grossbritannien und Frankreich ein. Der wichtigste Unterschied zu Deutschland findet sich beim politischen Spitzenpersonal. Hierzulande seien die Parteien sehr viel durchlässiger, was unter anderem durch ihre grössere, sozial breiter gefächerte Mitgliedschaft zu erklären sei. 'Der gewünschte Habitus ist dementsprechend weit weniger ausgeprägt als in der Wirtschaft', so Hartmann. Dort entscheidet ein kleiner Kreis von Personen, der überwiegend dem Grossbürgertum entstamme, 'wer zu ihnen passt'.

Die britischen und französischen Eliteschulen und -universitäten führen nach Hartmanns Untersuchung zu einer ähnlichen Zusammensetzung des Spitzenpersonals der Privatwirtschaft wie hierzulande: Eine Führungsschicht reproduziert sich selbst. Die Auswahlprozesse sind allerdings andere. In Grossbritannien oder Frankreich öffnen die richtigen Abschlüsse die Türen. In Deutschland finde die Auswahl durch intransparente Auswahlprozesse in den Unternehmen selbst statt.

Der staatlichen Bildungspolitik wirft Hartmann allenfalls vor, sich Illusion darüber hinzugeben, wie viel Chancengleichheit durch Bildung erreichbar sei. Hartmanns Adressaten sind eher die Personalabteilungen und die Führungskräfte der deutschen Wirtschaft.

Er schätzt allerdings deren Neigung, sich vom Selbstbild als Leistungelite zu verabschieden, als gering ein - und zitiert als Beleg einen Brief aus einem deutschen Grosskonzern. In einem Mitarbeiterorgan würde man gern einen Text von Hartmann 'über die Bedeutung des souveränen Auftretens' veröffentlichen, hiess es da. Die Thesen des Professors könne man zwar gut nachvollziehen, aber nicht veröffentlichen. Das hiesse schliesslich 'im Klartext, dass viele Mitarbeiter nur wenig Chancen auf Karriere hätten'".

 

Quelle:
Elisabeth Niejahr: Stallgeruch. In: Zeitliteratur, Jg. 57, Nr.41, Oktober 2002, S. 84

 

 

 

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