04.11.01
/ Soziale Selektion durch Herkunft statt "Wahlbiographie"
Michael Hartmann und Johannes Kopp gehen unter dem Titel "Elitenselektion
durch Bildung oder durch Herkunft" (KZfSS, 2001, Jg.53, H.3,
436-466) der Frage nach, ob die soziale Herkunft eine eigenständige
Rolle für die ungleiche Rekrutierung der deutschen Eliten spielt
oder ob sie nur vermittels der ungleichen Bildungsbeteiligung der
verschiedenen Bevölkerungsschichten wirkt.
Zu ihrer
Klärung untersuchten die Autoren die soziale Herkunft sowie die
Bildungs- und Berufswege von ca. 6500 promovierten IngenieurInnen,
JuristInnen und WirtschaftswissenschaftlerInnen der Promotionsjahrgänge
1955, 1965, 1975 und 1985.
Die Studie
zeigte das folgende zentrale Resultat: "Zwischen der sozialen
Herkunft und der Besetzung einer hohen Führungsposition in der
deutschen Wirtschaft besteht ein sehr enger Zusammenhang, der nicht
nur vermittels der ungleichen Bildungsbeteiligung der verschiedenen
Klassen und Schichten der Gesellschaft, sondern in grossem Umfang
auch ganz direkt wirkt" (S. 444).
Schon
die Promotion hat sich als sehr selektiver Bildungsabschluss erwiesen,
stammen doch über drei Fünftel der Promovierten aus dem
gehobenen oder dem Grossbürgertum (vgl. S. 445). "Trotz
der scharfen sozialen Auslese durch das Bildungssystem erfolgt bei
der Besetzung von Führungspositionen in der Wirtschaft eine zweite
(...) vom Bildungstitel vollkommen unabhängige soziale Selektion"
(ebd.). Von den Promovierten aus der Arbeiterklasse bzw. der Mittelschicht
haben es 9% in die Führungsetagen geschafft, von jenen aus dem
gehobenen Bürgertum 13% und von jenen aus dem Grossbürgertum
19% (vgl. S.446).
Die Karrierechancen
für promovierte ÖkonomInnen stellten sich im Vergleich mit
den JuristInnen und den IngenieurInnen als fast doppelt so hoch heraus.
Zudem hatten Frauen verglichen mit den Männern nur ein 10%-Chance
in der Chefetage zu landen (vgl. S.448). Auch die Studiendauer, das
Alter bei der Promotion, die Erwerbstätigkeit vor der Promotion
ausserhalb der Universität und ein Auslandaufenthalt beeinflusst
den Übergang in eine Führungsposition. Nichtsdestotrotz
wird "der Effekt der sozialen Herkunft nur unwesentlich durch
die Hinzunahme der diesbezüglichen Variablen verändert"
(S. 451).
Die Untersuchung
von Hartmann und Kopp zeigt zudem, dass die Bildungsexpansion
nicht zur erwarteten Öffnung der sozialen Strukturen geführt
hat: Sie "hat zwar zu einer sozialen Öffnung der Hochschulen
und (mit ungefähr eine Jahrzehnt Verspätung) auch der Promotion
als höchstem Bildungsabschluss geführt, diese Öffnung
hatte und hat aber keinerlei Auswirkungen auf die Besetzung von hohen
Führungspositionen in der Wirtschaft" (S. 457).
Der Erwerb
von Bildungstiteln führt zwar zu einer ersten Vorselektion unter
den möglichen KandidatInnen für Führungspositionen.
Ausschlaggebend für die endgültige Auswahl ist dann der
vom sozialen Milieu (mit-)geprägte Habitus in Form von
Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmustern. Die Autoren nennen in diesem
Sinne "die intime Kenntnis der in diesen Kreisen geltenden Dress-
und Benimm-Codes, eine breite Allgemeinbildung, unternehmerisches
Denken und vor allem Souveränität in Auftreten und Verhalten.
(...) Da sie in einem kaum kalkulierbaren Umfeld Entscheidungen von
oft grosser Tragweite treffen müssen, suchen sie nach Menschen
, auf die sie sich verlassen können, deren Verhaltensmuster und
Einstellungen den eigenen ähneln" (S.458).
Ergänzend
zu all dem wirkt auch das soziale Kapital als karriererelevanter
Faktor: Dabei geht es selten um eine direkte Protegierung bekannter
KandidatInnen, sondern "'nur' um die Weitergabe von Informationen
über freiwerdende Positionen und die für ihre Besetzung
wichtigen Faktoren und Einflüsse im jeweiligen Unternehmen"
(S. 459).
Hartmann
und Kopp ziehen daraus folgendes Resümee: "Wer aus der Arbeiterklasse
oder den breiten Mittelschichten stammt und damit nicht über
den Habitus der 'besseren Kreise' verfügt, kann dieses Manko
in der Regel nicht wettmachen. Er wird zumeist nur zweiter Sieger
sein, sei er nun promoviert oder nicht" (ebd.).
Aus diesen
Ergebnissen lässt sich mit den Autoren (mit Blick auf Niklas
Luhmann und Ulrich Beck) auch ein gesellschaftstheoretisches Fazit
ziehen:
- Die systemtheoretische Unterstellung, dass die Vorteile funktionsspezifischer
Natur (in Form von Geld, Macht, Bildung usw.) auch in den Familien
kaum noch transferierbar seien, wird damit durch die Realität
widerlegt.
- Auch die vor dem Hintergrund der Individualisierungstheorie
entwickelte Vorstellung einer "Wahlbiographie", die
höchstens noch durch Arbeitsmarkt und Sozialstaat beeinflusst
wird, ist mit diesen Resultaten nicht vereinbar. Mit ihrer These,
dass "die Menschen also zur Individualisierung verdammt seien,
verkennen sie die weiterhin grosse Bedeutung herkunftsabhängiger
Lebensmuster" (S. 460f.).
"Der Sohn eines Staatsanwalts, eines Arztes, eines Geschäftsführers
oder eines mittelständischen Unternehmers trifft die Entscheidung,
ob er studiert, was er studiert und welchen Beruf er danach ergreift,
nicht nur durchweg auf dem Hintergrund der ausgesprochen oder unausgesprochen
an ihn herangetragenen familiären Erwartungen, er vollzieht
all seine Schritte auch auf dem Fundament, das ihm das Aufwachsen
in solchen Familien verschafft. (...) Es sind jedoch nicht nur die
materiellen Mittel, die dieses Fundament ausmachen. Es ist vor allem
der Habitus, der aus dem Aufwachsen in solchen Milieus resultiert.
Man bewegt sich in den oberen Etagen einfach 'trittsicherer', weil
man das Gelände seit Kindesbeinen kennt. Dieser Sicherheit
entspricht auf Seiten des Nachwuchses aus den breiten Bevölkerungsschichten
jene 'Parkettunsicherheit', die der Unkenntnis und fehlende Vertrautheit
mit den Gegebenheiten entspringt. Handlungsleitend sind die Herkunftsmilieus
im einen wie im anderen Fall, einmal im positiven Sinne, einmal
im negativen. Von 'Wahlbiographie' im Beckschen Sinne kann daher
ebenso wenig die Rede sein wie von der Nichtübertragbarkeit
von Ungleichheiten in funktional differenzierten Gesellschaften,
wie sie Luhmann konstatiert" (S. 461).