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Newsletter Socialia
20.05.02
/ Aktivierender Staat als neues (sozial-)politisches Leitbild
Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Dahme diskutieren in der aktuellen
Neuen Praxis (2002, Jg.32, Nr.1, 10-32)
unter dem
Titel "Aktivierender Staat. Eine neues sozialpolitisches Leitbild
und seine Konsequenzen für die soziale Arbeit", was mit dem
Begriff "aktivierender Staat" bezweckt wird.
"Unter dem aktivierenden Staat wird ein Staat verstanden, der zwar
an einer umfassenden öffentlichen Verantwortung für gesellschaftliche
Aufgaben fest hält, jedoch nicht alle Leistungen selbst erbringen
muss. Seine Aufgabe ist es vielmehr, die Gesellschaft einschliesslich
die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zu aktivieren, zu
fordern und zu fördern, sich selbst als Problemlöser zu engagieren.
Dieser Staat ist keineswegs ein Minimalstaat (...), sondern im Gegenteil,
der aktivierende Staat tritt der Gesellschaft und den Individuen fordernd
und fördernd gegenüber" (Bandemer/Hilbert, zit.n. Dahme/Wohlfahrt
2002, S.10f.).
Das von der rot-grünen Bundesregierung verabschiedete Programm
zielt darauf, die Selbstregulierungskräfte der Gesellschaft zu stärken,
Bürgerengagement und Gemeinwohlorientierung zu fördern, das
Verwaltungshandeln effizienter zu organisieren und ein neues Prinzip der
Verantwortungsteilung zu etablieren.
Es knüpft damit an die konservative und kommunitaristische Pflichtendebatte
an, welche die Verknüpfung von Rechten und Pflichten fordert. Der
aktivierende Staat erbringt zwar weiterhin Leistungen, fordert dafür
aber auch eine Gegenleistung. Die Bürgergesellschaft "soll
demnach durch den gleichzeitigen Rückgriff auf neoliberale wie konservative
Elemente konstruiert werden: Rechte und Pflichten, Gemeinschaft und Zwang
auf der einen, Effizienz, Selbstverantwortung und Selbststeuerung auf
der anderen" (ebd., S. 12).
Die Autoren zeigen dann ausführlich auf, wodurch sich diese neue
Sozialstaatlichkeit auszeichnet:
- Sozialpolitik beinhaltet schon länger aktivierende Elemente.
Der aktivierende Staat führte allerdings zu einer Verengung des
Aktivierungsansatzes im Hinblick auf die Zielgruppen: "Aktivierung
konzentriert sich aktuell primär auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger"
(ebd., S.16).
- Die Entwicklungen in verschiedenen Ländern zeigen einen Übergang
vom Wohlfahrtsstaat zum "Workfare-Staat": "die
Ersetzung staatlicher Transferleistungen und Instrumente der Betreuung
und Versorgung durch aktivierende, passgenaue und die individuelle
Eigenverantwortung stärkende Handlungsstrategien, die vorrangig
arbeitsmarktpolitisch ansetzen und die Integration in den ersten Arbeitsmarkt
zum Ziel haben" (ebd., S.17).
- Diese Strategien versuchen soziale Inklusion durch Druck und
Zwang durchzusetzen: "Schritt für Schritt werden die
sozialpolitischen Instrumente fürsorglicher Betreuung und einer
'generösen' Versorgung (d.h. einer Versorgung ohne Gegenleistungen)
um Härteklauseln erweitert (...). Parallel dazu findet ein Ausbau
Druck ausübender, aufsichtsführender und kontrollierender
sozialstaatlicher Funktionen statt (z.B. durch 'Sozialdetektive')"
(ebd., S. 19).
- Die neue Sozialpolitik zeichnet sich auch durch ein individualistisches
Verständnis von sozialen Problemen aus: Sie ist "eher
verhaltens- als verhältnisorientiert. Die Betonung der Eigenverantwortung
bedeutet auch: individuelles Verhalten muss sich den Verhältnissen
anpassen und im Zweifelsfall dementsprechend qualifiziert, trainiert
oder letztlich 'dressiert' werden. Bei der Erklärung der Ursachen
von Sozialhilfe und Ausgrenzung wird psychologisch und wengiger soziologisch-strukturell
argumentiert" (ebd.).
- Erst die Remoralisierung der Sozialpolitik ermöglicht
die Durchsetzung der kontrollierenden und strafenden Elemente. "Die
Unterstellung und Restitution von gesellschaftlich geteilten Werten
und Normen in der workfare-Politik legitimiert letztlich den Einsatz
von Zwang und Repression denen gegenüber, die sich nicht anpassen
wollen und die dominanten Werte bzw. den 'social mainstream' (...)
in Frage stellen, insbesondere aber das Arbeitsethos des aktivierenden
Staates nicht teilen" (ebd., 20).
- Der aktivierende Staat versteht sich auch als starker Staat, als
Ordnungs- und Sicherheitsstaat. Hierbei wird Sicherheitsbegriff
herangezogen, welcher auf die autoritären Elemente reduziert
wird. So zeigt sich die autoritative Sozialpolitik gerade im Hinblick
auf die Umsetzung des Leitbildes des 'schlanken Staates': "Diese
geforderte Verschlankung zielt aber gerade auf die sozialen Sicherungssysteme,
sie ist gerichtet gegen die staatliche Funktion der 'Daseinsvorsorge'
für die Schwächeren, während die Repressiv- und Kontrollfunktionen
staatlicher Apparate von der Verschlankungskur ausgeklammert werden"
(ebd., S.26).
Diese Politik des Förderns und Forderns bedarf auch der Sozialen
Arbeit. Diese Indienstnahme hat dann gemäss den Autoren aber Konsequenzen
für die Soziale Arbeit:
- Können beispielsweise die workfare-Programme nur mittels
paternalistischer Betreuungsformen durchgesetzt werden, so werden
"Durchsetzung von Disziplin und Anpassung zur Arbeit (...)
zum methodischen Prinzip sozialer Arbeit in Aktivierungsprogrammen"
(ebd., S.22).
- "Die Forderung, Verhaltensweisen zu zeigen, die 'Arbeitsbereitschaft'
signalisieren (...) zielt ab auf Einstellungs- und Verhaltensänderungen
von Hilfebeziehern (...). Die Entwicklung und Durchsetzung von Zwangsmassnahmen
erscheint als methodisches Prinzip der Beeinflussung und Veränderung
defizitärer Persönlichkeitsstrukturen" (ebd.)
- Dies stellt die methodischen Prinzipien der Sozialen Arbeit in
Frage: Prinzipien "wie diskursive Lösungssuche, partnerschaftliche
Zusammenarbeit, Akzeptanz des Klienten, Wahrnehmung anwaltschaftlicher
Funktion, Freiwilligkeit der Hilfe, Bedürfnisorientierung der
Hilfe u.ä. erscheinen aus dieser Perspektive als nicht mehr
hinreichend für soziale Arbeit in einer individualisierten
Gesellschaft und müssen (...) durch autoritäre bis repressive
Interventionsmittel ergänzt werden" (ebd., S.23).
- Mit der bewussten Vernachlässigung der strukturellen Ursachen
von Problemen bleibt "auch der 'Fall' nicht, was er einmal
war: in der Fallarbeit werden Ursachensuche, hermeneutisches Fallverstehen
und Lebensweltorientierung zunehmend unwichtig, da lediglich die
von den jeweiligen Programmen vorgegebenen Verhaltensstandards durchgesetzt
werden müssen" (ebd., S. 24).
- Die Soziale Arbeit wird durch das Konzept des aktivierenden Staates
noch grundsätzlicher in Frage gestellt: So wird etwa von Beck
gefragt, wie die Soziale Arbeit in die Eigeninitiativen der BürgerInnen
gelegt werden könnte. In ähnliche Richtung argumentieren
jüngst auch die Christdemokraten: "für sie ist ein
Sozialhilfesystem, das nur Transferleistungen bietet 'organisierte
Lieblosigkeit' (CDU-Sozialausschüsse); aus christlicher Nächstenliebe
darf es noch ein bisschen mehr Druck und Zwang sein" (ebd.,
S.30).
Die sozialpolitischen Forderungen von Konservativen und Sozialdemokraten
in Deutschland zeigen grosse Überschneidungen. Diese Ähnlichkeiten
sind nach den Autoren "kein Zufall, sondern eher Teil einer 'nachholenden
Modernisierung', die anerkennt, dass der 'enabling state' längst
Wirklichkeit ist; im parteipolitischen Wettbewerb wird deshalb auch
nicht mehr ums Grundsätzliche gestritten, sondern nur noch über
die graduellen Abstufungen in der Mittelwahl" (ebd.)
Die Zeitschrift befindet sich in der Bibliothek
der FHS in Rorschach.
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