26.10.03
/ Die politischen Konjunkturen der Missbrauchsdebatte
Günther Schmid, Professor für ökonomische Theorie der
Politik an der Freien Universität Berlin, und seine MitarbeiterInnen
Frank Oschmiansky und Silke Kull widmen sich im Leviathan (2003, H.1,
3-31) der Missbrauchsdebatte im Hinblick auf die Arbeitslosenversicherung
(Titel des Artikels: "Faule Arbeitslose? Politische Konjunkturen
und Strukturprobleme der Missbrauchsdebatte").
In einem ersten Schritt gehen die AutorInnen auf die in Wellen wiederkehrenden
Debatten um einen Missbrauch von Sozialversicherung ein. Was
in der Schweiz als Diskussion um Scheininvalide auftaucht oder in Deutschland
in der Faulheitsdebatte zum Ausdruck kommt, solche Diskurse haben "erkennbare
politische Konjunkturen, und es lassen sich Bedingungen angeben, die
auf ein fast prognosefähiges Gesetz hindeuten" (S. 3).
Anlass
für eine solche Debatte bietet jeweils eine bevorstehende Wahl.
Denn strategisch macht es Sinn, dort anzusetzen, wo die Meinungen weniger
geteilt sind. Und gerade die umworbene politische Mitte neigt "fast
'chronisch' zur Annahme, es werde mit den sozialen Leistungen Missbrauch
getrieben" (S. 10). Der Erfolg dieser Strategie wird zudem noch
dadurch gesteigert, als die Mehrzahl dieser WählerInnen nicht erwerbslos
ist.
Da der
Missbrauch eigentlich ein Strukturproblem der Sozialversicherungen darstellen,
widmen sich die AutorInnen anschliessend dem komplizierten Regelwerk,
um Missbrauch zu vermeiden bzw. zu sanktionieren. Im internationalen
Vergleich zeigt sich eine erhebliche Variation der Sanktionsregelungen.
Auch in der Praxis der Sanktionsanwendung finden sich grosse Unterschiede.
So "sticht sofort ins Auge, dass Deutschland eine verschwindend
geringe Sperrzeitenrate von nur 1,3% aufweist. In den USA liegt die
Rate dagegen bei knapp 60 und in der Schweiz bei knapp 40%" (S.
17). Diese Sanktionen werden v.a. wegen mangelnder Arbeitssuche verhängt,
was in Deutschland (noch) nicht geahndet wird. Belgien am andern Pol,
"weist eine verschwindend geringe Sperrzeitenrate von 0,02% auf,
was die Ablehnung eines Arbeitsangebots betrifft" (S. 19).
Diese
geringe Rate in Belgien lässt sich auf die sehr strenge Sanktionierung
mit Sperrzeiten von 26 bis 52 Wochen erklären. So führt der
internationale Vergleich zu folgendem Fazit: "Je strenger die drohende
Sanktion, desto vorsichtiger oder zurückhaltender wird sie von
den Arbeitsämtern gehandhabt (...). Länder, die den Schwerpunkt
auf frühe und rasche Vermittlung setzen, weisen ein flexibleres
Repertoire an Sperrzeiten auf und setzen dies auch häufiger ein.
(...) Der internationale Vergleich legt deshalb nahe, den Arbeitsvermittlern
ein flexibleres Instrumentarium der Sperrzeitenregelung in die Hand
zu geben: Situationsgerechte 'Nadelstiche' erscheinen - soweit negative
Sanktionen überhaupt opportun sind - wirkungsvoller als die sofortige
'Drohung mit der Keule'" (S. 20f.).
In einem
nächsten Schritt gehen die AutorInnen der Frage nach, inwieweit
die Generosität der Arbeitslosenversicherung zur Höhe der
Arbeitslosigkeit beiträgt. In den 90er Jahren ist in verschiedenen
Studien gezeigt worden, dass weniger die Höhe als die Dauer der
Lohnersatzleistungen die Höhe der Arbeitslosigkeit mitbeeinflusst.
Dieser (empirisch schwache) Zusammenhang kann jedoch "so interpretiert
werden, dass mit zunehmender Dauer und Höhe der Massenarbeitslosigkeit
die Wirksamkeit aktiver Arbeitsmarktpolitik nachlässt, weil ihr
disziplinierender Effekt wegen des Mangels an anzubietender Arbeitsplätze
schlicht verpufft. (...) Aus den gegenwärtigen Befunden ein starkes
Plädoyer für einen Abbau der 'Generosität' der Arbeitslosenversicherung
als wirksames Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit abzuleiten,
ist also nicht gerechtfertigt" (S. 22).
Nachdem
Oschmiansky/Schmid/Kull auf Alternativen zur unfruchtbaren Missbrauchsdebatte
im Hinblick auf eine Aktivierung und Befähigung zu mehr Eigenverantwortung
hingewiesen haben, ziehen sie abschliessend die Lehren aus der
Faulheitsdebatte: Der Sachverhalt, dass das Initiieren solcher
Debatten zum politischen Kalkül gehört, bedeutet nicht, dass
kein politischer Handlungsbedarf besteht. Denn in diesen Thematisierungen
wird jeweils ein Strukturproblem der Sozialversicherungen offenbar.
"Sicherlich trifft der Verweis von Kritikern auf der einen Seite
einen richtigen Punkt, dass es nämlich an Arbeitsplätzen fehlt
(...) und nicht an der Arbeitsbereitschaft der Arbeitslosen. (...) Aber
ebenso richtig ist auch der Hinweis von Kritikern von der anderen Seite,
dass Arbeitslose gegenüber der Solidargemeinschaft in der Pflicht
stehen (...) intensiv nach Erwerbschancen zu suchen und diese auch wahrzunehmen.
Hier, so war unsere Schlussfolgerung, könnten zwei strategische
Weichenstellungen helfen, in Zukunft falsche Verdächtigungen (...)
zu vermeiden: erstens eine flexiblere Regelung und pragmatischere Gestaltung
der Sanktionen im Falle von Nicht-Kooperation; zweitens - und aus unserer
Sicht vielversprechender - die Erweiterung des Gestaltungsspielraums
der arbeitsmarktpolitischen Akteure auf dezentraler Ebene und die Erweiterung
des Entscheidungsspielraums auf individueller Ebene" (S. 28f.