08.12.02
/ Ungleiche Bildungsabschlüsse zuungunsten von Jungen
Heike Diefenbach
und Michael Klein widmen sich unter dem Titel "Bringing Boys Back
In" in der Zeischrift für Pädagogik (2002, Jg. 48, Nr.
6, 938-958) der "Sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern
im Bildungssystem zuungunsten von Jungen am Beispiel der Sekundarschulabschlüsse"
(so der Untertitel des Beitrags).
Zunächst
streichen die AutorInnen die Bedeutung der formalen Bildung für
die soziale Positionierung heraus: Sie ist "für die spätere
Berufsposition und vermittelt über die Berufsposition für
die soziale Platzierung grundlegend (...). Der für die Bildungskarriere
und die spätere Berufsposition entscheidende Bildungsabschluss
ist der Sekundarschulabschluss" (S.940).
Hinsichtlich der Sekundarschulabschlüsse zeigen sich nun deutliche
Unterschiede: "In den Schuljahren von 1994/95 bis 1999/2000 erreichten
durchschnittlich 28.2% der Mädchen und 21.8% der Jungen die Hochschulreife,
und 42.1% der Mädchen und 37.1% der Jungen erwarben einen Realschulabschluss.
Einen Hauptschulabschluss erreichten im Durchschnitt 29.7% der Jungen
und 22.4% der Mädchen. Ohne Hauptschulabschluss blieben durchschnittlich
11.3% der Jungen und 6.5% der Mädchen" (S.941).
Das Fazit
der AutorInnen: "Es geht also an den realen Verhältnissen
vorbei (...), wenn man aus der Tatsache, dass Mädchen bezüglich
ihrer Schulabschlüsse gegenüber Jungen aufgeholt oder ihre
Nachteile gegenüber Jungen inzwischen ausgeglichen hätten,
schliesst, dass die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern im Bereich
schulischer Bildung überwunden seien. Tatsächlich besteht
eine deutliche Ungleichheit (...) - allerdings zuungunsten von Jungen"
(S. 942).
Diese Unterschiede
lassen sich in allen Bundesländern feststellen, allerdings variiert
das Ausmass beträchtlich. "Deutlich ist zu sehen, dass Jungen
besonders im Osten Deutschlands Nachteile haben" (S. 948).
Zur Erklärung
dieser Ungleichheiten liessen sich zwei (strukturelle) Merkmale bestätigen:
"Sowohl die Nachteile, die Jungen gegenüber Mädchen im
Sekundarschulbereich haben, als auch deren unterschiedliche Ausprägung
zwischen den Bundesländern stehen (...) im Zusammenhang mit dem
Anteil männlicher Grundschullehrer und der Arbeitslosenquote"
(S. 953) in der Region.
Ersteres liesse sich einerseits mit einer aktiven Benachteiligung von
Jungen durch Lehrerinnen begründen. Wahrscheinlicher ist jedoch,
"dass die Nachteile, die Jungen gegenüber Mädchen durch
die Betreuung durch Lehrerinnen haben, eine unbeabsichtigte Folge des
Handelns der Lehrerinnen sind, die das Verhalten von Jungen und Mädchen
unterschiedlich interpretieren. (...) So ist es denkbar, dass Mädchen,
die sich in einer Klasse (negativ) auffällig verhalten, eine grössere
Zuwendung und ein grösseres Verständnis durch Lehrerinnen
erfahren als Jungen, die sich (negativ) auffällig verhalten"
(S. 949).
Auch eine Selektion als Ergebnis einer geschlechtsspezifischen Sozialisation
wäre denkbar: "Lehrerinnen prägen die Schulkultur; möglicherweise
erwarten und prämieren sie solche Verhaltensweisen, die Mädchen
im Rahmen ihrer Sozialisation einüben, Jungen aber nicht (in demselben
Ausmass)" (S. 949f.). Umgekehrt wären sie durch störendes
Verhalten von Jungen "stärker irritiert als Lehrer, wenn sie
als Massstab die eigene geschlechtsspezifische Sozialisation heranziehen"
(S.950).
Die Arbeitslosenquote
könnte insofern einen Einfluss haben, als "Jungen eher als
Mädchen ihre Schulkarriere beenden (müssen), um durch eine
Erwerbstätigkeit zum Familieneinkommen beizutragen oder durch Erlernen
eines vermeintlich sicheren Ausbildungsberufs Fuss in einem vermeintlich
krisensicheren Gewerbe zu fassen" (ebd.).
Die AutorInnen
kommen im Ausblick zur folgenden Einschätzung ihrer Ergebnisse:
"Da in Deutschland der männliche Lebensverlauf stärker
als der weibliche von der schulischen und beruflichen Bildung abhängt
und die Möglichkeiten beruflicher Bildung in starkem Masse von
der schulischen Bildung abhängen, ist es für Jungen besonders
nachteilig, wenn sie keinen Hauptschulabschluss oder lediglich einen
Hauptschulabschluss erwerben. Ihnen steht - anders als Mädchen
- in der Realität (derzeit noch?) kein sozial akzeptierter Lebensentwurf
als 'Vollzeit-Vater' oder Ehe- und Hausmann zur Verfügung"
(S.955).
Selbst ein alternativer Lebensentwurf liesse sich nur schwer verwirklichen,
da die Partnerwahl in unserer Gesellschaft in der Regel so erfolgt,
dass sich die PartnerInnen bezüglich Bildung und Status ähnlich
sind oder die Frau einen Mann mit einem höheren Status wählt
(vgl. ebd.).
Weniger
die Ergebnisse als deren (vermutlich als politisch nicht korrekt angesehene)
Interpretation wird wahrscheinlich noch einiges zu Reden geben. Diefenbach
und Klein sehen denn auch, dass ihre Befunde mehr Fragen aufwerfen als
beantworten und hoffen, "dass ein erster Schritt in die Richtung
getan ist, 'to bring boys back in', nämlich in die Betrachtung
von sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, bei denen es
nicht von vornherein als feststehend angesehen wird, welches Geschlecht
die Nachteile und welches die Vorteile auf seiner Seite hat" (S.
957).
Die Zeitschrift
findet sich in der Bibliothek
der FHS in Rorschach.